Vol.1, Salzig oder Süß
Es ist schon erstaunlich, dass im Nordwesten außerhalb der alten Stadt Shaoxing, welche eine 2500 Jahre lange Geschichte hat, sich noch eine so gut erhaltene Altstadt mit Kanälen befindet, die im 15. Jahrhundert ihre Blütezeit begann und wie durch eine Zeitreise ihre Tradition heute wieder erzählt – besonders in der Winterzeit, wenn die Sonne hervorkommt. Die warme Sonne wirkt wie eine natürliche Heizung, die es mir ermöglicht, den Stress, der durch das Schreiben meiner Masterarbeit verursacht wird, hinter mir zu lassen, das Aufkommen des Frühlings nur ein paar Kilometer von zu Hause entfernt zu genießen und die Atmosphäre des bevorstehenden chinesischen Neujahrs zu spüren.
Anchang scheint in der Zeit still zu stehen. Die Stimmen und Gerüche der Stadt bleiben die Gleichen, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne. Anchang stand jedoch während der Pandemie nicht still, denn was Anchang anzubieten hat, braucht neben dem Sonnenschein auch Zeit, um „genährt“ zu werden. Besucher aus dem “Wurstland” (Deutschland), in dem etwa 60 Prozent des Fleischkonsums aus Wurst besteht, werden vielleicht glücklich zur Kenntnis nehmen, dass in dieser schönen Stadt ein kulturelles Äquivalent den Gaumen der Chinesen schmeichelt. Während der Ming-Dynastie gab es einen Herrn einer großen Familie aus Anchang, der ein Fleischesser war und die eingestellten Köche immer wieder entließ, nur weil ihre Kochmethoden der „Gefräßigkeit“ des Herren nicht gerecht werden konnten. In Eile zog das neue Dienstmädchen die für ihren eigenen Verzehr reservierten Würste hervor. Zwar wurden solche Würste aus weggeschmissenen Schweineinnereien und Hackfleisch hergestellt, konnten jedoch unerwartet den Geschmack des Herrn befriedigen. Man kann sich sicherlich vorstellen, wie die Geschichte weiterging. Der Wahrheitsgehalt dieser kleinen Legende lässt sich nicht mehr bestimmen. Eines kann man jedoch immerhin feststellen: dass etwas Kulinarisches stets unter dem einfachen, fleißigen und intelligenten Volk seine Lebendigkeit gewinnt.
Heute braucht man sich nicht mehr Sorge um den Mangel an Zutaten zu machen. Sofern man Glück hat, kann man den Prozess der Anchang-Wurstherstellung vor Ort beobachten: Metzger zerkleinern Schweinebauch in kleine Stücke und mischen es mit Sojasoße, ein bisschen Schnaps und Glutamat. Teilweise kommt noch Zucker hinzu. Die Masse wird dann in einen Schweinedarm von guter Qualität gefüllt und durch Trocknen haltbar gemacht. Ich hatte das Glück, diesen Prozess beobachten zu können. Verschiedene Nahrungsmittel, sei es Schweinefleisch, Fisch oder Ente, haben allesamt unter Beteiligung von Sojasoße und Sonnenlicht eine magische Transformation vollzogen. Man nennt es „Jiang Xiang“ (der angenehme Geruch und Geschmack von Sojasoße). Bisweilen werden sie sogar zu Kunstwerken an verschiedenen Ecken der Altstadt – manchmal konnte ich nicht mehr sicher sagen, ob die Dekoration am Fluss hängende getrocknete Jiangxiang-Fische waren, oder ob es rote Laternen in Fischform waren.
Ich stand auf einer jahrhundertealten Brücke und sah mir eine andere Brücke an. Die alte Stadt Shaoxing hatte am Ende des 19. Jahrhunderts 229 Brücken auf einer Fläche von 7.4 Quadratkilometern. Diese Dichte war 45-mal so hoch wie die von Venedig. Obwohl Anchang, das außerhalb der Stadt liegt, bei dieser Zählung nicht berücksichtigt wurde, hat die Wasserstadt dennoch mehr als ein Dutzend Brücken, die die beiden Seiten des Flusses verbinden. Neben der Brücke ist ein Friseursalon aus einem anderen Jahrhundert. Ein Shaoxinger sucht sich eine Jiangxiang-Ente aus und feilscht um den Preis. Schade war es nur, dass das alte Teehaus, vor dem ich vor ein paar Jahren Halt machte, nicht mehr da ist und durch einen neuen Laden ersetzt wurde, der mit Würsten, Enten, Fischen und vielen anderen Spezialitäten aus Shaoxing handelt.
Aufgezeichnet am 28.01.2021
Ort: Anchang Shaoxing Zhejiang-Provinz
LOU Qunyang: Student der Nanjing Universität
Anhang: Volltext mit Bildern im Deutschen und im Chinesischen